«Wes Brot ich ess, des Lied ich sing»
Wochenbrief 8
«Wes Brot ich ess, des Lied ich sing»
Liebe Freundinnen und Freunde,
«Wes Brot ich ess, des Lied ich sing», so sagt ein mittelalterliches Sprichwort, das bis heute aktuell ist. Das klingt logisch und gibt einer Meinungsvielfalt Ausdruck. So erleben wir es zum Beispiel in der Werbung. Geht es allerdings um Krisen, Nöte, Katastrophen, stiftet diese Art «Gesang» rasch Verwirrung — und einen die Gemeinschaft (zer)störenden Missklang. So ist es in diesen Wochen in der Auseinandersetzung um den noch weitgehend unverstandenen Virus Covid-19 zu beobachten.
Der Sonntag «Kantate» meint etwas ganz Anderes: Zum Singen wird hier eingeladen – nicht nur in der Art, wie es allen Menschen persönlich guttut, sondern auch im Blick auf politische Entwicklungen. Wie kann es gelingen, dass in einer Gesellschaft Partikularinteressen im Rahmen des Gemeinwohls zur Geltung kommen und das «Spiel» der Mächtigen gegen die Schwachen unterbrochen wird?
«Nehmt den Ton, den Gott anstimmt, einhellig auf…» — so schreibt Ignatius von Antiochien. Er war am Ende des 1.Jahrhunderts Leiter der grossen Christen-Gemeinde in Antiochien im heutigen Syrien. Die römischen Besatzer haben ihn verhaftet und als Gefangenen nach Rom geschickt, wo er zur Zeit des Kaisers Trajan hingerichtet wurde. Auf der Reise nach Rom hat er sieben Abschiedsbriefe an die Gemeinden in Kleinasien (der heutigen Türkei) geschickt. In einem von ihnen (Ign. Eph.4,2) formuliert er eine wunderbare Einladung zum Hören und Singen:
Nehmt den Ton, den Gott anstimmt, einhellig auf.
Singt mit einer Stimme dem Vater, mit Jesus als Chormeister,
damit Gott euch hört und an eurem gelungenen Werk
erkennt, dass ihr Glieder am Leib seines Sohnes seid.
So ist es das Schönste, wenn ihr vollkommen miteinander eins seid.
So habt ihr Anteil an Gott.
Das klingt wundervoll und ist es auch. Wir haben nur eine Schwierigkeit damit: wir sind »Wirklichkeitsmenschen«, das heisst, wir halten von uns aus nur das für möglich, was wir aus eigener Kraft verwirklichen können. »Wenn Sie Visionen haben, gehen Sie zum Arzt!« hat ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler (Helmut Schmidt, 1980) gesagt. Und vielleicht hatte er nicht nur Unrecht. Denn es geht ja tatsächlich nicht um unsere Visionen, sondern darum, dass Gottes Zukunft unsere Zukunft wird. Und Gottes Hoffnung zu hören und zu schauen, dazu werden wir eingeladen.
Dieses Hören und Schauen ist eben das, was den gefangenen Ignatius auf der langen Reise nach Rom bestimmt hat. Was ihn dort erwartete, wusste er. Seine Zukunft war ihm bekannt. Doch war er gewiss, dass seine von Menschen gebahnte Zukunft nicht Gottes Zukunft ist. Umso wichtiger war es ihm zu sagen: Lasst euch nicht entmutigen von meinem Ergehen, sondern »nehmt den Ton, den Gott anstimmt, einhellig auf«.
Ignatius war nicht nur ein Wirklichkeitsmensch, sondern sah sein zeitlich begrenztes Leben als aussichtsreich, weil Leben für jede denkbare Zukunft in Gottes Hand bleibt. »Aussichtsreich« werden wir, sobald wir den Ton, den Gott anstimmt, in uns aufnehmen, uns von ihm erfüllen und bewegen lassen.
«Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder…» — so heisst es in Psalm 98. Als «Wirklichkeitsmenschen» fragen wir: Was für Wunder? Wo in der Welt sind denn Zusammenklang und Harmonie zu hören?
In ihrem sechsteiligen Zyklus «Heilungsräume — dort wo der Himmel Licht vergossen hat» setzt Sr. Christamaria Schröter ins Bild, was es heisst, von Gott «berührt» zu werden: Noch zurückgenommen hinter Gittern der aufgezwungenen Isolation bittet ein Kranker Jesus um «Reinigung». «Und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will’s tun…» (Matthäus 8,3).
Im Inneren des Ausgesetzten lässt Jesus die Sonne der Heilung aufgehen: Vereiste Traurigkeit taut auf; bisher verschlossene Erfahrungen und Gefühle werden berührt; und um den Kranken wird es weit. Gott selbst geht um ihn herum wie ein Licht. «Auf der Stelle» ist dieser Mensch frei, zeigt sich den Anderen und lebt unter ihnen mit allem, was er sein und geben kann. Wo wir in unserem Inneren von Gott berührt werden, wird unser Leben zum Resonanzraum, in dem das Neue, das im Verborgenen heranwächst, schon klingt und singt.
In einigen Häusern meiner früheren Coburger Gemeinde findet allabendlich um 19 Uhr ein geistliches «Balkon-Singen» statt. Aus der Distanz und doch zusammen, mit unterschiedlichen Instrumenten und Stimmen konzertieren Menschen und singen dem Gott, der Sonne und Mond, unsere Erde und die Menschen mit Licht umfängt (Johannes 1,5).
Treffender als mit diesem Beispiel gelebter Nachbarschaft kann man wohl kaum beschreiben, wozu wir als Kirche in der Welt da sind: Zur vielstimmigen Harmonie des Gottes-Tones beizutragen — im persönlichen Umfeld wie im politischen Denken und Handeln. Indem wir unsere Stimmen einbringen und mit den anderen Stimmen zusammenklingen lassen, entsteht ein «neues Lied». Wer immer den Ton der Hoffnung aufnimmt, den Gott anstimmt, und diese Melodie selbständig weitersingt, trägt dazu bei, dass sich ein freudvolles Zusammenspiel aufbaut, eine »Symphonie«, deren Zusammenklang grösser ist als nur die Summe der einzelnen Stimmen.
«Nehmt den Ton, den Gott anstimmt, einhellig auf…» — der Vorsänger dieses neuen Lebens ist Jesus Christus selbst. Er hat gegen Unterdrückung, Krankheit und Tod angesungen und seine Botschaft in die Welt hineingespielt.
Die Partitur seines Evangeliums haben wir in der Hand. Sie mit unseren Melodien, im harmonischen Zusammenspiel mit anderen in unserer Zeit zum Klingen zu bringen – genau dazu ruft er uns. «Wo der Himmel Licht vergiesst» und
Musik, leben wir befreit von aller Angst um uns selber — und sind frei!