“Alles ist Gnade…”
Impuls 5
“Alles ist Gnade…”
Gerne möchte ich diesmal mit Ihnen ein Gedicht von Theodor Fontane (1819–1898) teilen, dessen 200. Geburtstag Ende des letzten Jahres war.
Fontane war Reformierter und wuchs in Brandenburg auf, wo es seit 1685 eine grosse Hugenotten-Gemeinde gab. Wie sein Vater erlernte er zunächst den Beruf des Apothekers, wurde dann Journalist und schliesslich Schriftsteller. Seine Schriften sind anschauliche Zeitzeugnisse und im besten Sinne des Wortes «erbauliche Trost-Literatur». Was ihnen allen gemeinsam ist: sie wollen Zuversicht und Mut zur Bewältigung des manchmal schwierigen Alltags mehren.
Fontane beschreibt leidende, irrende, oft tragisch scheiternde Menschen mit einem Blick der Hoffnung, des liebevollen Verständnisses und gewiss nie trostlos. Man könnte mit gutem Recht über sein literarisches Werk die Überschrift setzen: «Alles ist Gnade». Ein anschauliches Beispiel dafür ist das folgende Gedicht:
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
ein Birnbaum in seinem Garten stand.
Und kam die goldene Herbsteszeit
und die Birnen leuchteten weit und breit,
da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
der von Ribbeck sich beide Taschen voll.
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
so rief er: »Junge, wiste ’ne Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
kumm man röwer, ick hebb di ’ne Birn.«
So ging es viel Jahre, bis lobesam
der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende, ’s war Herbsteszeit,
wieder lachten die Birnen weit und breit.
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
trugen von Ribbeck sie hinaus.
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
sangen »Jesus meine Zuversicht«.
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
»He is dod nu. Wer giwt uns nu ’ne Beer?«
So klagten die Kinder. Das war nicht recht -
ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht.
Der neue freilich, der knausert und spart,
hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
und voll Misstrauen gegen den eigenen Sohn,
der wusste genau, was er damals tat,
als um eine Birn’ ins Grab er bat.
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
ein Birnbaumsprössling sprosst heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab.
Und in der goldenen Herbsteszeit
leuchtet’s wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,
so flüstert’s im Baume: »Wiste ’ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew’ di ’ne Birn.«
So spendet Segen noch immer die Hand
des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Was uns das Gedicht erzählt, ist eine Geschichte von Güte, Freude und Weitsicht. Wir hören nicht nur, sondern spüren sogleich: Gut geht es uns, weil und sofern wir wahrnehmen, wie unser eigenes Leben mit Voraus-setzungen beginnt, die uns gegeben werden, ohne dass wir selbst dazu beitragen konnten. Der Gutsherr Ribbeck ist ein Landbesitzer, bei dem «gut» nicht den materiellen Erfolg meint, den er auf Kosten anderer erntet, sondern die Nachhaltigkeit seines Tuns und Denkens über die eigenen Lebensgrenzen hinaus den Anderen und folgenden Generationen zugute. Das war das Herzensanliegen von Theodor Fontane, der sich kritisch mit den Realitäten der von Macht und Geld dominierten Gesellschaft ausein-andersetzte: Zu viele Menschen sah er an seinen Lebensorten, als Journalist und auf seinen Reisen im Dienste der Machthaber des jungen Deutschland leiden, verzweifeln und untergehen. Die Einsicht, die er bestätigt fand, hatte er schon im Religionsunterricht kennen gelernt: Die Zukunft kann nicht durch Egoismus, sondern allein durch Liebe gewonnen werden.
Der Mensch ist nicht «perfekt», trotzdem ist das Leben sinnvoll und kostbar — so Fontanes Überzeugung. Sie ist der Hintergrund, vor dem er seine literarischen Gestalten entwirft. Und sie ist vermutlich der Hauptgrund, weshalb es Freude macht, Fontanes Romane und Gedichte zu lesen. Es sind wirkliche Menschen, die er vorstellt, keine idealisierten Prototypen, die uns nur deutlich machen würden, dass wir’s halt noch nicht geschafft haben.
Menschen werden vom Leben, ihrem «Schicksal» geschüttelt, von leeren Konventionen eingeengt und von eigener Schuld geplagt — aber sie sind der Liebe wert. Fast scheint es, als wären Fontanes Schriften so etwas wie eine sich fortsetzende Anwendung der Einladung zum Menschsein im ersten Petrusbrief:
«Wichtiger als alles andere ist es, dass ihr euch nicht davon abbringen lasst, einander mit Liebe zu begegnen, denn Liebe überdeckt eine Menge Verfehlungen» (1.Petrus 4,8)
Fontane ist sich sicher: diese Haltung gegenüber anderen Menschen, seien es Eltern gegenüber ihren Kindern, seien es Eheleute miteinander, seien es Lehrpersonen und ihre Schüler*innen ist «nicht bloss trostreicher, sondern nachweisbar wahrer». So hat er in einer Theaterkritik notiert:
«Wo wären wir, wenn es anders läge! Behandle die Menschen nach ihrem Verdienst, und selbst der Beste kommt an den Galgen. Wir erstickten, wenn nicht der Wind wäre, und solch Geist der Auffrischung zieht durch die Menschheit und hält sie bei Existenz. Die Gnade fällt der Vernichtung in den Arm, und wo Krankheit geboren werden sollte, blüht Gesundheit auf.»
Dass wir mit Achtung und Liebe mehr und vor allem Besseres erreichen als mit Strafe und Verachtung, wissen wir gut. Es ist dies auch die Einsicht der Reformation gewesen. Gott begegnet Menschen nicht mit Forderung und Strafe — das tun menschliche Organisationen, die Macht haben und ausüben wollen, selbst wenn sie sich «Kirche» nennen. An diesem Machtanspruch ist im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit die christliche Einheit zerbrochen. Bis heute versuchen wir in der reformierten Kirche, dieses Vertrauen auf Gottes uns allezeit zuvorkommende Liebe beim Feiern sichtbar und spürbar zu machen. Zum Beispiel beim Sammeln der Kollekte. In der römisch-katholischen Kirche geht das Einziehen der Gaben dem Gang zum Altar und Empfang der Kommunion voraus, etwas vereinfachend gesagt: wie wenn man die ausgeteilte Hostie (den «Leib Christi») zuvor hätte entgelten müssen. Voraussetzungslos willkommen sind wir beim Abendmahl. Und ich bin sicher, dass dies unserm Menschsein eher entspricht: Grosszügigkeit bewirkt Grossherzigkeit, Güte weckt Gemeinschaft. «Rechtfertigung im Glauben» nannte man das in der reformierten Kirche, deren Angehöriger Fontane war.
Der Menschen Grösse und Bedeutung zeigt sich daran, wie sie das Leben Anderer ermutigen und stärken und wie sie der Liebe zum Anderssein des Anderen Ausdruck verleihen — ohne dafür eine «Belohnung» oder «Vergeltung» zu erwarten. Tatsächlich ist Liebe immer «gratis», nichts anderes als Liebe eben. Schon allein dafür, dass Fontane in einer bis heute weiterwirkenden Epoche der Un- und Gegenmenschlichkeit, in seiner Zeit der Erfindung der Menschenverachtung «aus Rasse-Gründen», seine Gedichte und Romane im Geiste und mit der Sprache der Liebe geschrieben hat, lohnt es sich, ihn (wieder) zu lesen:
Lieben lerne!
Und zur Fremde wird die Heimat.
Und zur Nähe wird die Ferne.