«Zum Betenden macht man sich nicht, zum Betenden wird man»
Wochenbrief 9
«Zum Betenden macht man sich nicht, zum Betenden wird man»
Liebe Freundinnen und Freunde,
Wer betet, sieht weiter:
das gilt nicht zuletzt von vielen Menschen in Geschichte und Gegenwart, die sich politischen Unrechtssystemen in den Weg stell(t)en. Die verstanden haben, dass die Welt der Ort ist, an dem Gott ignoriert werden kann, aber nicht ignoriert werden muss und an dem deshalb anders gelebt werden kann und soll, als Menschen es immer wieder tun.
Wer betet, sieht tiefer:
Wie kommt das? Was genau tun wir, wenn wir beten, und was sollten wir besser lassen? Jesus beantwortet diese Fragen in der Bergpredigt nicht gerade freundlich, dafür aber umso eindeutiger (Matthäus 6,7–8):
Wenn ihr betet, so quasselt nicht wie die Heiden; sie meinen nämlich, durch ihren Redeschwall erhört zu werden. Macht euch also nicht ihnen gleich, denn euer Vater weiss, was ihr nötig habt, bevor ihr bittet.
Was damit in der Tiefe gemeint ist, ist nicht etwa, dass Bitten um Hilfe und Erhörung Gott gegenüber unangemessen wären, sondern vielmehr: dass es gar nicht nötig ist, uns beim Ewigen in Erinnerung zu bringen und auf uns aufmerksam zu machen, weil wir bereits jederzeit und allerorten vor Ihm und Ihm gegenüber leben. Im Beten öffnen wir uns in die Gegenwart des Schöpfers, der um das Ergehen seiner Geschöpfe weiss und ihre Erlösung will. Mit all unserem Wünschen und Sehnen, auch mit allem, was uns in uns selbst einzuschliessen droht, sind wir längst umfangen von Ihm und von Seinem Wünschen und Sehnen, uns aus allem Kreisen um uns selbst zu befreien.
Wer betet, richtet sich auf Gottes Gegenwart aus:
Viele von uns haben schon als Kinder gelernt zu beten. Seither haben wir vor dem Einschlafen unsere Dankbarkeit für einen glücklichen Tag formuliert, in Nöten um Hilfe gefleht und um Kraft gebeten für Aufgaben, vor denen uns bange war. Wir haben vielleicht auch um schönes Wetter oder die Erfüllung sehnsüchtiger Herzenswünsche gebetet – und haben dabei, gerade wo unsere Wünsche unerfüllt und das Leben widerwärtig blieb, erfahren: Beten stellt uns in einen grösseren Zusammenhang, es schärft unser Bewusstsein für die eigenen Begrenztheiten und gibt uns das schützende Gefühl, in einem umfassenden Lebenshorizont geborgen zu sein.
Wer betet, sieht in einem anderen Licht:
Indessen blieb Beten so für die meisten unter uns etwas ganz Persönliches und Privates, das sich dann weiter entfaltet, wenn wir erwachsen werden. Ein Beispiel: Zu den vertrautesten Bildern, die man auch Kindern als Gebetshilfe weitergeben kann, gehört der 23. Psalm: Du, Gott, bist mein Hirte… — Viele Eltern oder Katechetinnen erzählen ihren Kindern dazu auch Hirtengeschichten, wie Jesus sie erzählt haben mag, um zu verdeutlichen, wie Gott keines seiner Lebewesen vergisst und im Stich lässt. Wunderbar, was damit in Kindern an Vertrauen gestärkt werden kann: Es ist gut, dass Du da bist!
Freilich, auf der Stufe des Heranwachsenden lässt man sich nicht mehr so gern mit einem Schäfchen identifizieren. Da müsste nun die andere Seite des Betens zugänglich gemacht werden: die öffentliche! Der Hirte seiner Schafe kommt im hebräischen Urtext dieses Psalms gar nicht nur liebevoll tröstend vor. Er hat durchaus die Züge eines zum Kampf und Widerstand bereiten Beschützers: Du bist bei mir, dein Schlagstock und dein Hirtenstab geben mir Zuversicht…(Vers 4). Stellen wir uns dazu vor, dass diejenigen, die so beten, ursprünglich Menschen in höchster Not und Bedrohung waren, dann wird deutlich, dass es hier gerade nicht um das Schlafen in Ruhe und Frieden geht, sondern um die Ermutigung zum Widerstand: Du deckst mir den Tisch unter den Augen meiner Bedränger (Vers 5) ‑3 und um die Gewissheit, dass Gott keine Unterdrückung von Menschen durch Mächte will.
So könnte ein solches Gebet mit uns zusammen weiterwachsen und uns helfen, uns als Erwachsene miteinander zu verbinden für ein Leben in Freiheit und Würde für alle Menschen.
Wer betet, nimmt wahr, dass das Leben und diese Welt keine herrenlosen Güter sind:
Die Frage ist, wer der «Herr» unseres Lebens sein kann. Damit wir nicht selbst in die Irre gehen, noch die Welt zufälligen Mächten überlassen, damit die Schöpfung Gottes nicht durch unachtsames Handeln und respektlose Gleichgültigkeit ins Chaos zurückgestossen wird, dafür brauchen wir das Beten im Geist Jesu: Dein Wille geschehe.
Beten braucht Konzentration:
Freilich kann man das nicht von Natur aus. Wir müssen es lernen und es lebenslang einüben. Vielleicht sind Nichtbetende manchmal der Ansicht, Beten sei ein Hobby, dem man bei Gelegenheit auch nachgehen könne. Wer darin allerdings die Mitte des eigenen Lebens erfährt, weiss, dass es dazu Konzentration und Hingabe braucht — und zum Alltäglichen gehört.
Beten ist «ein Reden des Herzens mit Gott»:
Unser Leben als Gabe jenes DU zu erkennen, dem wir unser ICH verdanken, und unser ICH als Zweites gegenüber dem DU Gottes, der der Erste und Anfang all dessen ist, was uns umgibt – darum geht es zuerst und zuletzt. Im Beten lassen wir unser Herz aufgehen für IHN, der uns zusagt (Jeremia 29,13–14): Wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden – so ihr mich sucht mit eurem ganzen Herzen. Und ich werde mich euch finden lassen, ist des Ewigen Spruch.
Von Ihm gefunden werden wir — und damit frei, unser Herz immer wieder in seine Gegenwart zu versetzen und unser Leben so zu gestalten, wie es Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern jeder Zeit rät (Matthäus 6,33): Es soll euch zuerst um Gottes Gegenwart und Gottes Gerechtigkeit (in der Welt) gehen, dann wird euch alles andere dazugegeben.