Nur noch das nackte Leben…? – oder: Wozu sind wir gerufen?
Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? — so singt der Chor zu Beginn der «Deutschen Messe» von Franz Schubert (https://www.youtube.com/
Die Sehnsucht nach der verlässlichen Antwort auf die Frage:
Wohin soll ich blicken, um standzuhalten, wenn das Leben um uns herum unsicher und bedrohlich erscheint? An wen soll, an wen kann ich mich wenden?
Das ist zugleich die Frage, welche das gesamte Johannes-Evangelium durchzieht, jenes Zeugnis von Gottes Interesse an uns Menschen. So gross ist dieses Interesse, dass der Ewige sich in seinem Sohn in die endliche Welt der Menschen hineinbegibt und sich damit allem aussetzt, was das alltägliche Leben von ganz einfachen, ganz normalen Leuten in Frage stellt, was Sorgen und Qualen hervorruft, ja was uns oft in jene Engpässe oder Sackgassen treibt, die wir «Angst» nennen. Wohin soll ich mich wenden, wenn Krankheit, Not und Ungewissheit mein gewohntes Leben in Frage stellen?
Die überwältigende Mehrheit der Nachrichten und Botschaften dieser Tage fokussieren unsere Blicke auf das Bedrohliche. Demgegen-über sagt der italienische Philosoph Giorgio Agamben (NZZ am 19.3.2020, S.29): «Die Panikwelle, die ganz Italien zum Erliegen brachte, hat deutlich gezeigt, dass unsere Gesellschaft an nichts mehr glaubt ausser an das nackte Leben.»
Im Folgenden führt er aus, wie die Italiener «angesichts der Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, praktisch alles zu opfern bereit sind: die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, sogar die Freundschaften, die Gefühle, die religiösen und politischen Überzeugungen. Das nackte Leben — und die Angst, es zu verlieren — ist nicht etwas, was die Menschen verbindet, sondern was sie trennt und blind macht.»
Inzwischen ist es nicht nur in Italien so, sondern in weiten Teilen Europas und besonders krass in den USA. Inzwischen ist es aber auch so, dass in der Krise viele Initiativen entstehen, die über «das nackte Leben hinaus» Zeichen von Freundschaft, Sorgsamkeit und Verbundenheit setzen. Die deutsche Theologin Petra Bahr plädiert für eine wichtige Unterscheidung: Physischer Abstand muss nicht sozialer Abstand sein. Im Gegenteil: Der Corona-Virus könnte sozu-sagen zum «Virus der Solidarität» werden (bref No.5/2020, S.14–17).
Wohin also soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Eine der natürlichsten Antworten auf diese Frage finden wir ganz am Ende des Johannes-Evangeliums, im Kapitel 21, das uns davon erzählt, wie die erste Christengemeinde nach der Hinrichtung Jesu lernte, weiterhin selbständig auf seine Botschaft zu hören. Sie hörten die seltsame Aufforderung: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus!
Hier der Zusammenhang dieser Aufforderung zum Vertrauen: Die Jünger fischen am See von Tiberias…
… aber in jener Nacht fingen sie nichts. Als es dann Tag wurde,
stand Jesus am Ufer, doch die Jünger erkannten ihn nicht.
»Kinder«, rief er ihnen zu, »habt ihr nicht ein paar Fische für das Frühstück?« — »Nein«, riefen sie zurück, »nicht einen einzigen!« -
»Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus!«, forderte er sie auf. »Ihr werdet sehen, dass ihr etwas fangt.«
Sie warfen das Netz aus, aber dann konnten sie es nicht mehr einholen, solch eine Menge Fische hatten sie gefangen. Da sagte jener Jünger, den Jesus besonders liebte, zu Petrus: »Es ist der Herr!«
Die «rechte Seite des Bootes», Steuerbord nennt man das auch, ist in der Sprache jener Zeit die Seite des Lebens, auf die Jesus leitet: «Ich aber bin gekommen, um ihnen Leben zu bringen — Leben in ganzer Fülle« (Joh.10,10). Und was hier in der verzweifelten Situation nach Jesu Tod geschieht, gibt dieser Verheissung die Bestätigung: «Das Netz war voll von grossen Fischen, im Ganzen hundertdreiundfünfzig» (Joh.21,11).
Wie ist das zu verstehen? Kenner der Antike sagen uns: die Naturkundigen jener Zeit kannten 153 Fischarten. Weil die Jünger der Aufforderung Jesu folgten, fanden sie die Fülle des Lebens. Jesus hatte seine Freundinnen und Freunde alle Zeit auf die Fülle des Lebens hingewiesen, die Gott den Menschen schenkt: eine wachsende Fülle, auf die man vertrauen kann, wie einst die Auswanderer aus Ägypten, die jeden Morgen frisches «Manna» ernten konnten. Jene aber, die über Nacht zu horten versuchten, fanden das aus Angst und Egoismus Gesammelte von Würmern gefressen (2. Mose 16).
Anders gesagt: Wer sich auf die verheissene Fülle ausrichtet, wird zusammen mit allen Andern finden und empfangen, was er zum Leben braucht. Wer sich aber vom Misstrauen und Eigennutz leiten lässt, in dessen Ergattertem ist der Wurm drin…
Die Bewegung des Vertrauens, die Jesus in Menschen angestossen, gestärkt und ermutigt hat, hat in den vergangenen 2000 Jahren eine Fülle von Leben hervorgebracht. In Zeiten der Not kommt es darauf an, dass wir an der richtigen Stelle nach Leben suchen. Wir haben gute Gründe, in diesen Tagen wieder einmal den Eingangschor von Schuberts «Deutscher Messe» zu hören oder gleich selbst zu singen:
Wohin soll ich mich wenden,
wenn Gram und Schmerz mich drücken?
Wem künd ich mein Entzücken,
wenn freudig pocht mein Herz?
Zu Dir, zu Dir, o Vater,
komm ich in Freud und Leiden.
Du sendest ja die Freuden,
Du heilest jeden Schmerz.
Sigmunda May — «…und das Netz war voll»