Alle waren ausser sich vor Staunen
Wochenbrief 11
Alle waren ausser sich vor Staunen
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben
Geheimnisvoll ist und bleibt, was die Pfingsterzählung des Lukas uns zu sagen hat. Sie will uns hör-fähig machen. Keine Wundergeschichte wird erzählt, sondern unsere Aufmerksamkeit für Gott soll geweckt werden. Geheimnis ist und bleibt, wie Gott Menschen anspricht — jede und jeden Einzelnen — und wie Menschen Gott hören und verstehen können: Wie ist es möglich, dass eine unvertraute Stimme Einlass findet in unser Denken und in unser Herz?
Wie kann es gelingen, dass Gottes Liebe, die in Jesus Christus menschlich erkennbar wurde, unser Leben zu prägen beginnt, so dass die Freiheit Gottes die Freiheit des Menschen wird?
Wenn die nordamerikanischen Navajo-Indianer einen Teppich herstellen, dann weben sie jeweils an einer Ecke einen kleinen Webfehler ein. Diesen Webfehler betrachten sie als die Stelle, an der «der Geist» in den Teppich hineingeht und aus ihm herausgeht. Dort, wo das sonst so exakte und immer gleiche Muster unterbrochen wird, da «atmet» es, da bekommt der Geist eine Chance.
Mir fällt dazu eine deutsche Rede-Wendung ein: «Der hat einen Webfehler». So sagt man nicht nur von fehlerhaften Teppichen, sondern auch von einem Menschen, den man für «verrückt» hält, der anscheinend nicht ganz bei Verstand ist, der irgendwie «ausser Rand und Band» geraten ist. Einer, der sich ganz unerwartet und merkwürdig verhält.
Beim Lesen und Hören der Pfingstgeschichte des Lukas begegnet uns ein Bild für diese Redewendung: Als der Heilige Geist einen Zugang zu den Aposteln fand, als sie sich von diesem Geist erfüllen liessen und im wahren Wortsinn «be-geistert» das Evangelium von Jesus Christus verkündeten — da sagten die anderen: »Die haben einen Webfehler! Die sind nicht ganz bei Verstand! Die sind verrückt oder betrunken!«
Das scheint uns aus heutiger Sicht doch ziemlich irritierend: Das Christentum und die Geschichte der Kirche beginnen — salopp formuliert — mit einem Webfehler. Am Anfang steht nicht eine konstituierende Mitgliederversammlung, bei der sich die Jünger unter der Leitung von Petrus auf eine für alle Völker und alle Zeit unverändert gültige Verfassung geeinigt hätten. Am Anfang steht nicht das exakte Muster, stehen nicht einvernehmlich geklärte Grundsätze, die man bewahren und vor jeder Veränderung schützen muss. Am Anfang steht ein «Webfehler».
Den Anfang der christlichen Kirche setzt das Hereinbrechen des Heiligen Geistes in das Haus und in die Menschen, die zwischen Angst und Gottvertrauen dort versammelt sind. Alles, worauf sie gebaut hatten, war scheinbar zerbrochen. Jesus, der Sohn Gottes war getötet worden – und vor ihren Augen auferweckt. Er hatte sich ihnen gezeigt und sie dann verlassen. So viele Gründe, mutlos den Kopf hängen zu lassen. So grosse Hoffnungen, die wie Seifenblasen zerplatzen. «Die Luft war draussen». Nichts ging mehr.
Und dann geschieht das Unerwartete: Ängstliche bekommen Mut, Zögernde geraten in Bewegung, Unsichere werden Zeugen, Begeisterte reden von dem, was ihr Herz erfüllt. Die Jüngerinnen und Jünger gerieten «ausser sich» – und die Luft war wieder drin!

Matthias Klemm
Denn die Luft, die ein freies Aufatmen ermöglicht, musste wieder eingeatmet werden. Wenn alles beengt und verkrampft ist, muss der Notarzt «intubieren»! Der «Webfehler», den die Navajos in ihre Teppiche weben, ist eine Art Öffnung, mit der verhindert werden soll, dass ein menschliches Werk perfekt und abgeschlossen wirkt.
Ähnlich stellt es der Maler und Graphiker Matthias Klemm dar: In die geordneten, festgelegten und engen Grenzen unserer Existenz, in das einheitliche Bild, das wir abgeben, bricht Gottes lebendiger Geist ein. Unser Leben ist wie ein Teppich, gewebt aus einzelnen Erfahrungsfeldern — und so perfekt wir es zu gestalten suchen, es wird doch immer «Webfehler» haben. So vieles ist und bleibt offen. Vieles, was wir gern anders (gehabt) hätten, bleibt unserer Verfügbarkeit entzogen. Wir können es nicht so abschliessen, wie wir wollen.
Frustrierend? Nein, denn «abschliessen» und «abgeschlossen» sind Begriffe, die in der Welt Gottes nicht vorkommen. Die Schöpfung ist ein Weiterwachsen. Leben ist immer im Werden und Sich-Wandeln. «Abgeschlossen» wird in Gefängnissen, werden menschliche Beziehungen, Prozesse, Türen. Das Leben Gottes aber öffnet uns zur Zukunft, eröffnet uns am Ende der Sackgassen die Einsicht, die uns umkehren hilft, um die Richtung hin zum wahren Leben zu finden.
Wo Gottes Geist in Menschen gegenwärtig wird, da ereignet sich nicht etwas Neues oder Anderes im Gewohnten, nein, da wird vielmehr Alles anders und neu — weil Gott selbst mitten unter uns wohnt und wir dafür aufmerksam werden und Seine Stimme hören können. Dann erkennen wir, wer wir sind und wo wir hingehören. Die Freiheit Gottes befreit uns von Allem, was uns gefangen hält, sie befreit uns zur bedingungslosen Liebe.
Gott kommt in mein Leben genau dort, wo es offen, nicht perfekt ist, wo es zugänglich, nicht zugewachsen ist: dort beginnt es, dort beginnen wir zu «atmen».