Das passende Kleid… -
Impuls 6
Das passende Kleid… -
Predigt am 18. Oktober 2020 zu Epheser 4,22–5,2
Pfrn. Andrea Sterzinger
Zur Hochzeit meiner Tochter habe ich mir ein neues Kleid gekauft. Eines, wie ich es noch nie hatte: Es ist «bleu royal», königsblau, und von erlesenem Stoff. Es trägt sich wunderbar und passt wie angegossen. Als ich es anzog, noch im Geschäft, habe ich gespürt, wie ich mich aufrichte. Innerlich und äusserlich. Irgendwas war anders. Und plötzlich bemerkte ich: Nicht ich trage das Kleid, sondern das Kleid trägt mich. So war ich auf der Hochzeit. So habe ich diesen besonderen Tag erlebt.
Gustav Klimt – Adele Bloch-Bauer (1907)
Der Verfasser des Briefs an die Epheser schreibt von einem neuen Kleid. Einem Kleid das denen geschenkt ist, die sich an Gott orientieren: den Ephesern und uns. Dieses Kleid beschreibt er nicht mit Stoffqualität und Farbe, sondern mit einem Namen: «Der neue Mensch».
20Ihr aber habt bei Christus etwas anderes gelernt! … 22Dabei wurdet ihr auch gelehrt, nicht mehr so weiterzuleben, wie ihr bis dahin gelebt habt, sondern den alten Menschen abzulegen, der seinen trügerischen Begierden nachgibt und sich damit selbst ins Verderben stürzt.
23Und ihr wurdet gelehrt, euch in eurem Geist und in eurem Denken erneuern zu lassen 24und den neuen Menschen anzuziehen, der nach Gottes Bild erschaffen ist und dessen Kennzeichen Gerechtigkeit und Heiligkeit sind, die sich auf die Wahrheit gründen.
Ein wahrlich «royales», königliches Kleid wird hier beschrieben: Ein Kleid aus «Gerechtigkeit und Heiligkeit». In ihm richten wir uns auf — innerlich und äusserlich. Es trägt uns durch den Tag. Es strahlt Freundlichkeit und Herzlichkeit aus, Hingabe und Achtsamkeit. Wie eine Aura umgibt uns die Freude, von Gott geliebte Kinder zu sein. Das ist es, wozu wir bestimmt sind.
Wie kommt es dann, dass wir uns oft so anders fühlen?
Nelson Mandela hat es in seiner berühmten Antrittsrede auf den Punkt gebracht:
«Unsere tiefste Angst ist nicht, ungenügend zu sein. Unsere tiefste Angst ist, dass wir über die Massen kraftvoll sind. Es ist unser Licht, das wir am meisten fürchten, nicht unsere Dunkelheit…»
Und er setzt dem entgegen:
«Du bist ein Kind Gottes. Dich klein zu machen, nützt der Welt nicht. Wir alle sind aufgefordert, wie die Kinder zu strahlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen. Sie ist nicht in einigen von uns, sie ist in jedem.»
Warum fällt es uns so schwer, uns tragen zu lassen vom Licht durchwebten, brillanten und brillierenden Kleid der Gottesliebe — ein Kleid, das uns zu erwachsenen Frauen und mündigen Männern macht? Im Brief an die Epheser geht es, genau wie in der Rede von Nelson Mandela, darum, unsere Möglichkeiten zu erkennen:
Es geht darum, sich nicht bestimmen zu lassen von äusseren Umständen, und seien sie auch noch so herausfordernd.
Es geht darum, dass wir unter allen Umständen das wunderbare Kleid der Liebe und der Mündigkeit tragen, das Gott uns jeden Morgen hinhält.
Während meiner Zeit in Ostafrika fiel mir auf, wie schmuck gekleidet die tansanischen Frauen am Sonntag zum Gottesdienst kamen. «Wie schaffen sie das?», habe ich mich gefragt. Ich kannte ja die Lehmhütten mit Gras- oder Wellblechdach, die ihr Zuhause waren. Wie war es möglich, dass diese Frauen mit weissen, gestärkten Kragen und makellos sauberen Blusen in der Kirche erschienen?
Und nicht nur das. Auch im Alltag zeigen Afrikanerinnen — ganz natürlich und leicht — eine Haltung, die ich nur mit viel Bewusstheit und Disziplin hinbekomme — und die ich schnell verliere, wenn ich nicht aktiv dran denke. Afrikanische Frauen gehen einen aufrechten Gang, so dass sie selbst schwere Gegenstände mühelos auf dem Kopf balancieren. — Wie machen sie das? Und wie ist es möglich, angesichts ihrer mehr als beschwerlichen Lebensumstände so etwas wie ein unsichtbares Feierkleid zu tragen und einen solch aufrechten Gang zu gehen?
«Es gibt zwei Arten von Schmerzen…» — so formuliert es Eric-Emmanuel Schmitt in seinem berührenden Büchlein «Oskar und die Dame in Rosa».
Der kleine Oskar, tief beeinträchtigt durch eine unheilbare Krebserkrankung, besucht mit Oma Rosa, die ihn in seinen letzten Lebenstagen begleitet, die Spitalkapelle. Er bekommt einen «Riesenschreck», als er Gott am Kreuz hängen sieht, und fragt Oma Rosa, ob man «so einem» vertrauen kann… — sie antwortet:
«Warum nicht, Oskar? Denk nach: Wem fühlst du dich näher? Einem Gott, der nichts fühlt, oder einem Gott, der Schmerzen hat?»
«Einem, der Schmerzen hat, natürlich. Aber wenn ich er wäre, wenn ich der liebe Gott wäre, wenn ich so wie er alle Möglichkeiten hätte, würde ich mich um die Schmerzen drücken.»
«Niemand kann sich um Schmerzen drücken. Weder Gott noch du. Weder deine Eltern noch ich.»
«Gut, einverstanden. Aber wozu gibt es überhaupt Schmerzen?»
«Jetzt kommen wir der Sache näher. Es gibt Schmerzen und Schmerzen. Schau dir mal sein Gesicht an. Schau mal ganz genau hin. Sieht er aus, als ob er Schmerzen hätte?»
«Nee. Komisch. Er sieht nicht so aus, als ob ihm etwas weh täte.»
«Eben. Siehst du, Oskar, man muss zwischen zwei Arten von Schmerz unterscheiden, dem körperlichen und dem seelischen Schmerz. Den körperlichen Schmerz hat man zu ertragen. Den seelischen Schmerz hat man sich selbst ausgewählt.»
«Versteh ich nicht.»
«Wenn man dir Nägel in die Hände haut oder in die Füße, dann kannst du nicht verhindern, dass dir das weh tut. Das musst du aushalten. Dagegen muss dir der Gedanke zu sterben nicht weh tun. Du weisst ja nicht, was das bedeutet. Also hängt es ganz allein von dir ab.»
«Niemand kann sich um Schmerzen drücken. Weder Gott noch die Menschen… — und so hängt es ganz allein von dir ab…» – und zwar von deiner Bewusstheit und von deinem Vertrauen, so sagt uns auch der Epheserbrief, wie du mit Enttäuschung, Schmerz und Leid umgehst! Was für eine Freiheit: Wir sind nicht Gefangene der äußeren Umstände, die uns das Leben erschweren. Wir sind nicht einmal Gefangene der begrenzten Möglichkeiten unseres Körpers und unserer Gesundheit. Sondern wir haben in jeder Minute unseres Seins die Möglichkeit, uns der allfassenden Liebe Gottes bewusst zu werden und sie an uns zu tragen!
Stell dir vor, du trägst den «neuen Menschen» wie ein Kleid des Vertrauens… — bei Hausarbeit und bei der Gartenarbeit, wenn du mit den Menschen zusammen bist, die dir nahe sind, und in der Begegnung mit anderen, die dir fern oder unbekannt sind. — Wie bewegst du dich? Wie verhältst du dich? Welche Gedanken wirst du denken und welche Worte wirst du sprechen?
Im Bibeltext heisst es in der Fortsetzung: Du wirst dich nicht mit Lügen aus der Verantwortung ziehen, sondern zur Wahrheit stehen. Du wirst nicht auf deinem Zorn beharren, sondern dich versöhnen. Du wirst nicht nehmen, sondern geben. Du wirst auf deine Worte achten, so dass sie nicht zerstören, sondern ermutigen. Die Bitterkeit über Vergangenes wirst du ablegen wie ein altes Kleid und das neue Gewand der Freundlichkeit und Herzlichkeit anlegen.
Vielleicht erschrickst du manchmal über deine eigene Courage. Wenn du frei wirst von allem, was dich früher entmutigt hat, wenn du dich nicht länger als Opfer der Umstände oder anderer Menschen siehst, wenn du frei dazu bist, deine Freundlichkeit leuchten zu lassen und anderen zu schenken, wirst du sichtbar. Du wirst angeschaut. Da ist es gut, ein wunderschönes Kleid zu tragen. Ein Kleid, das dich schützt. Ein Kleid, das dich adelt. Ein Kleid, das dir ganz und gar entspricht.
Wie würdest du dich am Abend fühlen — nach einem Tag in diesem Kleid?
Und wäre es nicht wunderbar, wir alle würden es täglich tragen?
Voller Würde. Voller Stolz. Voller Anmut.
Ein Feierkleid für den Alltag. Nur mal versuchsweise… -
und dann morgen wieder.