Impuls 8 — Gelassenheit
Liebe Weissensteiner*innen
Liebe Freundinnen und Freunde unserer Kirchgemeinde
Wie kann es gelingen, dem Leben in all seinen Wechselfällen und Herausforderungen standzuhalten? Reinhold Niebuhrs «Gebet um Gelassenheit» lädt dazu ein, auch in Zeiten der Not, der Sorge, der Einsamkeit die Verbindung zu Gott und dem Leben nicht abreissen zu lassen.
Niebuhr selbst (1892–1971), dem wir unseren aktuellen Impuls widmen, war reformierter amerikanischer Theologe, berühmt in den USA, kaum bekannt im deutschsprachigen Europa. Bedeutsam geworden ist er durch seine Studien zur Beziehung zwischen christlichem Glauben und realer Politik und Diplomatie. Menschen wie Martin Luther King, John F. Kennedy, Jimmy Carter, John McCain haben auf ihn gehört und von ihm gelernt. Barack Obama nannte ihn seinen Lieblingsphilosophen. 1964 verlieh ihm Präsident Lyndon B. Johnson die «Medal of Liberty».
Herzliche Einladung auch zu unseren nächsten Gottesdiensten:
13.05. Ökumenischer Auffahrt-Gottesdienst am Buechechäppeli (um 10 Uhr) — bei Regen um 10:30 Uhr in der katholischen Kirche Rechthalten
23.05. Festgottesdienst zu Pfingsten (um 9:30 Uhr)
06.06. Gottesdienst in Weissenstein (um 9:30 Uhr)
13.06. Gottesdienst zur Konfirmation (um 10 Uhr) — bei geteilter Gruppe um 9 Uhr und um 11 Uhr
Mit der Bitte um Gelassenheit und Weisheit bleiben wir in diesen schwierigen Zeiten weiterhin mit euch verbunden.
Herzliche Grüsse,
Andrea Sterzinger, Pfarrerin
Cornelia Sandmeier, Kirchgemeindepräsidentin
Am wahren Leben teilhaben
Meditation des Gebets um Gelassenheit von Reinhold Niebuhr
Es ist die Teilhabe — und niemals irgendein Besitz ! — die uns einen Wert verleiht, der menschlich unantastbar ist. Nur wenn es eine Wahrheit gibt, die nicht vom Menschen stammt, ihn aber ergreifen und als Fremden vor sich hinführen kann, haben wir eine Bedeutung. Die Teilhabe ist es, die uns unantastbare Würde verleiht.
Die grosse Not unserer Zeit spiegelt sich in der brisanten Frage: Was wissen heutige Menschen noch von Gott? Wer Gott nicht kennt, macht sich leicht selbst zum Richtmass der Dinge und des Lebens, obwohl es unmöglich ist, die «Wahrheit» von sich selbst zu empfangen.
Reinhold Niebuhr, einer der bedeutendsten amerikanischen Theologen des 20.Jh., hat dieser Not des eindimensionalen Menschen, der sich selbst zu nah ist, um sich entwickeln zu können, und zu wenig fremd, um sich verändern zu können, in einem kleinen Gebet Worte verliehen, die um die Welt gegangen sind. Im Gottesdienst einer Dorfkirche in Massachusetts hat er dieses Gebet im Sommer 1943 (also mitten im 2.Weltkrieg) zum ersten Mal gesprochen. Von dort aus hat es eine Weltreise angetreten und hilft uns bis heute, uns auszurichten und um Orientierung zu bitten:
Gott, gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Um zwei Fähigkeiten bittet, wer dieses Gebet mitspricht: um Gelassenheit (serenity) und um Weisheit (wisdom). Beiden Begriffen gemeinsam ist, dass sie uns einladen, unser Nachdenken übers Leben nicht an uns selbst auszurichten und dann sozusagen im Kreis um uns selber zu rotieren, sondern es an dem zu orientieren, was uns von Gott — also zunächst von ausserhalb ! — angeboten und eröffnet wird.
Im Johannes-Evangelium hören wir die Einladung, uns «nach aussen» auszurichten aus dem Munde Jesu Christi so:
«Ich versichere euch: Wer auf mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben. Auf ihn kommt keine Verurteilung mehr zu; er hat den Schritt vom Tod ins Leben getan.» (Johannes 5,24)
Hören wir diese Worte jetzt im Zusammenhang mit Niebuhrs Gebet, dann geht uns auf: Es gibt etwas, das uns Menschen über uns hinausstreben lässt. Eine Hoffnung, die weder in unserer Gegenwart noch in unserer Biografie begründet ist. Eine Zuversicht, die uns von der Zukunft entgegenkommt. Eine Sehnsucht, die vom Atem der Vollendung belebt wird. Es gibt etwas, das in uns Menschen wirksam werden will und das in jenem Herzen wohnt, das Gott uns geben will, wie es der Prophet Ezechiel vernommen hatte:
«Und ich werde euch ein neues Herz geben, und in euer Inneres lege ich einen neuen Geist. Und ich entferne das steinerne Herz aus eurem Leib und gebe euch ein Herz aus Fleisch. Und meinen Geist werde ich in euer Inneres legen, und ich werde bewirken, dass ihr nach meinen Satzungen lebt und meine Rechtssätze haltet und nach ihnen handelt.» (Ezechiel 36,26–27)
Die beiden Bibelworte geben uns zu hören, was die Spannung ist, in der wir Menschen leben: Niebuhr hat sie in einem seiner Hauptwerke «Natur» (nature) und «Bestimmung» (destiny) des Menschen genannt. Und in der Tat beginnen wir, wenn wir um diese Art der Unterscheidung beten, zu verstehen, worin die «Gelassenheit» besteht, und ebenso, was jene «Weisheit» ist, die uns mit dem Leben verbindet. Das haben wir allerdings nötig, kennen wir doch aus dem Alltag, aus den Medien, aus der Geschichte der Menschheit jene Natur des Menschen, die stets zum Vernichten drängt.
Ein amerikanischer Analytiker, Stephen Karpman, hat vor einigen Jahren beschrieben, in welchen Zyklen sich diese Natur, die zur Zerstörung treibt, immer wieder inszeniert. Er hat diesen Vorgang als eine Art «Karussell von Verstrickungen» beschrieben, das immer schneller nach innen dreht und am Ende die Zerstörung von (Zusammen-)Leben bewirkt. Die Beteiligten spielen sich abwechselnd als Opfer, als Verfolger, als Retter oder als Helden auf und deuten die andern als Täter oder Bösewichte, um sich selbst wirksam in Szene zu setzen. Allerdings gibt es in diesem «Drama» niemals wahrhafte Beziehungen, nur Vereinnahmung und Manipulation.
Die Bitte um «klarsichtige Gelassenheit» wird hier zum dringenden Wunsch «abzusteigen» und die Freiheit vom Prozess des Bösen wieder zu gewinnen. Innehalten, Unterbrechung finden, wo alles immer schneller im Kreis dreht, heisst das Heils-Wort in der Bibel — auf Hebräisch «schabbat». Wo wir es nicht mehr fertigbringen, innezuhalten, droht das Unheil uns zu vereinnahmen. «Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe», hat scharf beobachtend der Philosoph Walter Benjamin vor 100 Jahren notiert. Zu «Gelassenheit», um die zu bitten uns Niebuhr einlädt, gehören die Tätigkeitswörter: aufhören, innehalten, unterbrechen, loslassen.
Und jetzt: Wer vom Karussell absteigen möchte, wenn es in Fahrt ist, braucht mindestens eine rettende Hand ! Im alltäglichen Leben könnte das Gebet von Reinhold Niebuhr diese uns hingehaltene, uns befreiende Hand werden. Nur wer innehalten kann, findet auch Zeit zu unterscheiden, was gegeben ist und was wir verändern können. Diese Weisheit zu gewinnen, braucht Zeit. Von Natur aus neigen wir Menschen, zumal in Krisen, zum Beschleunigen, im Extremfall zur Panik.
Die Bitte um «Weisheit» ist jene uns gegebene Möglichkeit, uns kritisch zu unserem Leben zu verhalten. Am besten gelingt uns dies tatsächlich, wenn wir die Beziehung zu Gott, zum Schöpfer, zum Befreier pflegen und seinem Ruf, ihm ähnlich zu handeln, folgen. Dann kann aus dem bitteren Wunsch nach Rache und Vergeltung so etwas wie Vergebung und Versöhnung in uns wachsen und mit uns Gestalt annehmen. Und dies ist stets die Wahl des Lebens ! Das andere braucht keine Wahl. Vernichtung und Tod stellen sich von selbst ein: sie sind Teil der «Natur»!
Als Wesen dieser Natur sind wir «endlich, abhängig und kontingent», hat Niebuhr einmal notiert. Sinnvolles menschliches Leben aber wird nur durch ein Ziel gewährleistet, das jenseits allen Gefangen-Seins in den natürlichen Reaktionen liegt. Der Ruf Jesu verspricht auch uns heute:
«Wer auf mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben. Auf ihn kommt keine Verurteilung mehr zu; er hat den Schritt vom Tod ins Leben getan.»
«Ewiges Leben» ist das Ziel jener Weisheit, um die zu beten uns Niebuhrs knappes Gebet einlädt. «Ewiges Leben» spiegelt sich in unserem täglichen Leben, sofern wir weniger egoistisch und ausgrenzend, aber umso versöhnter und inklusiver denken und handeln — in einer Weise, bei der einander widersprechende Puzzle-Teile zusammengesetzt werden zu einem Ganzen. In diesem Zusammenfinden haben das Gegebene und das zu Suchende ihren Ort und ihren Sinn.
Wer sein Leben vom «ewigen Leben» bestimmen lässt, vergisst nicht, dass er eigentlich nichts weiss, weil der wirkliche Sinn des Lebens ihm immer neu von Gott gezeigt werden muss. Er bleibt ein lernender Mensch — und wird weder zum Rächer noch zum Richter über Andere. Wer sein Leben im Hören auf Gottes Anrede zu bestimmen wagt, vertraut darauf, dass das Ende nicht ein Untergang ist, sondern die Vollendung und wirkliche Erfüllung unseres je persönlichen Mensch-Seins.
Wir sind von Gott geschaffen und zum Gestalten berufen. Unsere Bestimmung ist es, auch im Scheitern standzuhalten und Gott um seine Weisheit zu bitten — so dass wir Menschen werden, die sich aus dem Hören auf die Stimme des Erlösers zum Handeln leiten lassen. Der französische Autor Maurice Bellet («Le Dieu sauvage: pour une foi critique», 2007) fasst das so zusammen:
«Weshalb gibt Gott sich im Menschen zu erkennen?
Damit der Mensch Gott ähnlicher wird.
Das ist wahr: wo Barmherzigkeit und Liebe sind, da ist Gott.»